Die autoindustrie steckt derzeit in einer ihrer größten krisen seit
Jahrzehnten. so tönt es allerorten. stimmt das? Oder ist das alles
nur ein medienhype? knallharter lobbyismus? Verteidigen hoher
Gewinnspannen? und was tut die Politik dafür? Oder dagegen? Wer sorgt
für Orientierung? ein wahrlich heißer herbst 2017.
Heute schämen wir uns für eine Industrie, auf die wir eben noch stolz
waren. Für Hersteller, die vertuschen, wo immer es geht und Betrug
aus lauter Gier zum Geschäftsmodell gemacht haben." Der "moralische
Kompass" der Autobranche habe "komplett die Orientierung verloren".
Das schreibt nicht etwa ein kampfgrüner Trotzkist und notorischer
Autohasser. Nein, diese Worte stammen vom Chefredakteur der deutschen
Zeitschrift "Auto Bild" aus dem Hause der Axel Springer AG. Also
einer Druckschrift, die sonst auf jeder Seite sprüht vor Begeisterung
für das Auto mit all seinen Aspekten und all seinen Details. In der
angesprochenen Ausgabe brachte die "Auto Bild" jedoch über drei
Seiten als Thema der Woche "Wie böse ist die Autobranche?", mit
sieben Punkten, die den "Lobbyismus und Absprachen der Hersteller"
illustrieren sollen. Das war Anfang August 2017, mitten in einem
schrecklichen Sommer für die Autoindustrie, als die Hinweise auf
Dieseltricksereien nicht abebbten, und noch eine große Geschichte des
Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" über ein mutmaßliches
AdBlue-Kartell über die Branche hereinbrach. "Die dunkle Seite der
Macht" titelte das Magazin dann über den Diesel-Gipfel der deutschen
Bundesregierung, mit folgendem Tenor in der Story: "Die Regierung ist
handlungsunfähig. Sie hat sich mit Haut und Haaren der Autoindustrie
ausgeliefert." Auf hunderten Zeilen wiederholt der "Spiegel"
mantragleich die Aussage: Die Autoindustrie ist das Blech gewordene
Böse.
sogar autofans steigen aus Auch ehrliche Autofans konnten nicht mehr
mit: "Die Debatte um die Nachrüstung älterer Dieselmodelle gerät
immer mehr zur Farce. Eine spürbare Verbesserung der Luft dürfte sich
nicht einstellen, denn auch nach erfolgtem Software-Update schaltet
die Abgasreinigung einen Großteil der Zeit einfach auf Durchzug -dem
Thermofenster sei Dank", schrieb "Auto Bild" dann auch in der ersten
September-Nummer. Die Existenz der so genannten Thermofenster scheint
derzeit sowohl für den aus so gut wie jeder deutschsprachigen Zeitung
grimmig schauenden wie tönenden deutschen
Betriebswirtschaftsprofessor Ferdinand Dudenhöffer ebenso wie für
viele Medien der Beweis dafürzu sein, wie sehr die Politik vor der
Industrie eingeknickt ist. Wurde doch gesetzlich erlaubt, dass die
Stickoxid-Reinigung per Harnstoff-Katalysator nur bei
Idealtemperaturen erfolgt, um die Versottung (Schleimbildung) zu
verringern. Mit dem Ergebnis, dass das deutsche Umweltbundesamt per
Studie rausfinden darf, dass im Realbetrieb sechs Mal so viel
Stickoxid aus dem Auspuff geblasen wird wie erlaubt. Oder dass die
Umweltorganisation ICCT, die schon 2015 den Dieselskandal aufgedeckt
hatte, in einer Studie öffentlichkeitswirksam feststellt, dass 90
Prozent der Dieselautos die Grenzwerte im Echtbetrieb nicht
einhalten. Mehrere "Diesel- Gipfel" wurden in Deutschland und
-harmloser und noch PR-technisch aufgesetzter - in Österreich
durchgeführt, danach folgte vor der deutschen Bundestagswahl
öffentliches Abwatschen der Autobosse durch Politiker, Zusagen für
Nachrüstungen, öffentliches Empören - trotzdem hört die
Negativberichterstattung offenbar nicht auf. Die Autoindustrie wurde
zum Watschenmann, ausgerechnet knapp vor der wichtigsten
Branchenschau, der IAA. Was ist da passiert? Die deutsche
Autoindustrie ist ja nicht irgendwer. 800.000 Menschen arbeiten für
sie, oft überGenerationen, ganze Familien fühlen sich Marken
zugehörig. Sie macht 450 Milliarden Euro Umsatz, klar ist sie eine
der wesentlichen Schlüsselindustrien unseres nördlichen Nachbars, des
viertgrößten Autobauers der Welt. Und nicht wenige Österreicher
hängen indirekt an dieser Branche. Unser Neuwagenmarkt wird von Autos
made in Germany dominiert, wir haben Motorenwerke, Fahrzeugaufträge
sowie eine traditionsreiche Zulieferindustrie.
Gegen die "Gilde der autofeinde"
Klar, dass die Vertreter der Industrie nun gegen die "Gilde der
Autofeinde" antreten. Matthias Wissmann, Präsident des Verbandes der
deutschen Autoindustrie (VDA), sagt in der "FAZ":"Manche davon sind
nur grün lackiert, in Wirklichkeit steckt häufig ein knallharter
Lobbyismus dahinter." Das wird so falsch nicht sein. Gerade auch
deshalb: Die Situation könnte dramatischer nicht sein. Auf der IAA
bliesdie Autoindustrie jedenfalls zur Gegenoffensive. Sie brachte
jedes Elektroauto, dessen sie in den Entwicklungswerkstätten habhaft
werden konnte, und stellte es auf die größte Automesse der Welt nach
Frankfurt. Elektrifizierungsoffensiven wurden lautstark ausgerufen:
"Wir haben verstanden und wirwerden liefern. Das ist keine
unverbindliche Absichtserklärung, sondern eine Selbstverpflichtung",
so VW-Boss Matthias Müller. "Wir greifen an", tönte Klaus Fröhlich,
Technikvorstand von BMW. Sehr offen dazu die Aussage der Chefs der
Daimler AG: Mit Elektroautos verdiene man nur die Hälfte imVergleich
zu Benzinern und Dieselautos. Also heiße Elektrifizierungsprogramm
gleichzeitig Sparprogramm. Kritik lässt nicht auf sich warten.
"Während die neuen Stromer von Tesla oder Nissan gar nicht auf der
IAA gezeigt werden, hat die Automesse von deutschen Herstellern nur
Stromer im Ankündigungsstadium zu bieten", stichelt das
Nachrichtenmagazin "Focus".
Ankündigungen kennen wir. Vor einem Jahrzehnt war es die
Brennstoffzelle, die einen kleinen Hype erlebte. So gut wie jeder
Hersteller verlautete, dass er "in drei Jahren" mit einem
serienreifen Fahrzeug auftrumpfen werde. Genau. Die "Automobilwoche"
feixt dazu: "Alle Jahre wieder ist es an Silvester ein großer Spaß,
wenn Butler James das Geburtstagsdinner für Miss Sophie wuppt. Same
procedure Ganz ähnlich ist es mit der 67. IAA: Abermals wird die
elektrische Mobilitätswende ausgerufen."
Der hype ist real Der Unterschied zwischen Heute und Damals ist: Der
Hype ist real. Ohne Messestand auf der IAA ist Tesla in aller Munde.
Auf den Ständen der Konkurrenz. Die Kalifornier verbrennen zwar Geld
ohne Ende, aber die Kunden wollen die Gefährte haben, Kinder recken
die Hälse auf den Straßen ("Schau, ein Tesla!!!"), Flottenmanager
beginnen zu rechnen. Angeblich liegen bei Elon Musks Firma bereits
450.000 Vorbestellungen für das relativ leistbare Model 3 vor,
angeblich bekommen sie täglich 1.800 neue Orders rein. Und selbst
wenn das alles ein teurer Marketingschmäh sein sollte und die
Milliarden an Investitionen in Tesla sich nie rechnen sollten: Die
Autoindustrie ist unter anderem auch deswegen seit heuer nicht mehr
das, was sie einmal war. Es ist ersichtlich, dass fleißig
Gegenstrategien in der Industrie ausbaldowert werden -auf technischer
Ebene sind die deutschen Ingenieure ja beileibe nicht die
schlechtesten. Auch beim Spiel mit den Startups haben die großen
Konzerne längst erkannt, dass sie den Markt mit den skalierbaren
Innovationen nicht den Apples, Googles und Intels dieser Welt
überlassen dürfen und kaufen sich ebenfalls bei vielversprechenden
Neulingen ein, die eine App entwickelt haben, und irgendetwas mit
Menschen, Autos und Smartphones damit neu organisieren wollen.
klare message? Fehlanzeige!
Aber: Die klare Message an die Nutzer von Automobilen fehlt noch.
Denn zu gut verdiente man am 100 Jahre lang gewachsenen Business-
Modell. Wie geht es aber weiter? Hat der Diesel nun eine Zukunft?
Technisch okay, aber lassen sie ihn wirklich noch in die Städte rein?
Wie ist das mit dem Wertverlust jetzt tatsächlich? Sowohl
Privatnutzer als auch Verantwortliche für Firmenwagen stehen der
Kakophonie an Aussagen derzeit ratlos gegenüber. Hier: Der Diesel
kann doch auch super sauber. Da: Ab 2040 ist es aus. Hier: Was sollen
wir als nächstes kaufen.Da: In unsere Innenstadt lassen wir euch
damit nicht mehr rein.
Halt, haben wir nicht jemanden vergessen? Doch, die Politik. Der
britischeÖkonom John Maynard Keynes sagte bereits 1926 in "The End
of Laissez Faire":"Die wichtige Sache für Regierungen ist es nicht,
Dinge zu tun, die Individuen ohnehin schon tun, und sie ein bisschen
besser oder ein bisschen schlechter zu machen, sondern jene Dinge zu
tun, die derzeit überhaupt nichtgetan werden." Wie zum Beispiel eine
klare Richtung in der Frage vorzugeben, welche Art der Mobilität wir
als moderne europäische Gesellschaft haben wollen.